Silvesterfreuden

von Anja Beisiegel

Die Zeit zwischen den Jahren war bei uns immer eine besinnliche Zeit gewesen. Man verdaute gemütlich den Gänsebraten vom ersten Feiertag, futterte die geschenkten Pralinenmischungen und stopfte Vanillekipferl, Spritzgebäck und Makronen in sich hinein. Hier ein klitzekleiner Eierlikör, dort ein Gläschen Assmannshäuser Roten.
In dieser Stimmung konnte man Silvester gelassen angehen. Die Vorbereitungen wurden daher auch an dem Silvestervormittag, von dem ich Ihnen erzählen möchte, mit der gewohnten Routine abgewickelt, alles war –zunächst zumindest- ganz normal.
Es gab einen langen Einkaufszettel abzuarbeiten, eine große Schüssel Kartoffelsalat war zuzubereiten und unser spezielles familiäres Silvestergebäck: Neujahrspuppen. Sie wissen schon, diese goldgelben Hefeteigwecken mit zwei kleinen goldbraunen Köpfchen. Einem Köpfchen für das vergangene und einem für das kommende Jahr.
Die Aufgabenverteilung war wie immer: Mama machte den Salat, Papa die Puppen, „Bobbe“, wie ich ja richtiger schreiben müsste, und ich erledigte den Einkauf. Und mittendrin wuselten unsere drei Hunde.
Als ich vom Einkauf zurückkam, war eine gewisse Abweichung vom üblichen Programm eingetreten. Etwas Unplanmäßiges, eigentlich Unerklärliches war vorgefallen!
Die „Bobbe“ waren verschwunden. Eigentlich noch nicht einmal die „Bobbe“ als solche, sondern der Teig, genauer die Teiglinge, aus denen die goldigen janusköpfigen Kerlchen erst entstehen sollten.
Vielleicht muss ich an dieser Stelle eine kurze Erläuterung abgegeben, für all diejenigen, die in der Silvesterbäckerei nicht so bewandert sind:
Hefeteig muss nämlich gehen. Zweimal sogar. Einmal in der Schüssel und dann noch einmal, wenn er seine spätere (hier: „Bobbe“-)Form hat. Am besten an einem warmen Ort.
Wenn ich „Gehen“ sage, ist natürlich „Aufgehen“ gemeint. Nicht etwa „Fortlaufen“, wie es an diesem Silvestermorgen anscheinend passiert war.
Kurz und gut, das Blech mit den „Bobbe“-Rohlingen war nicht auf der warmen Wohnzimmerheizung.
“Hilde“, wurde gerufen. „Wo ist denn das Blech?“ Wenn nicht im Wohnzimmer konnte es ja eigentlich nur in der Küche (war es nicht), im Gästezimmer (Fehlanzeige) oder in der Diele (keine Spur) sein.
Rätselhaft. Wirklich und wahrhaftig rätselhaft. Etwas hatte sich in Luft aufgelöst. Entmaterialisiert. Etwas Übersinnliches war in unserem Haus vorgefallen.
Glaubten wir zumindest. Bis uns eine unheimliche Erscheinung im Flur entgegenwankte: Claudio. Unser Spaniel-Rüde. Der arme Hund blickte glasig durch uns hindurch. Sein Leib hatte sich zu einer prallen Tonne ausgedehnt. Gespannt wie eine Trommel. Was sage ich da; Trommel? Nein, Pauke, wäre der passende Vergleich. Claudio sah aus wie eine trächtige Ziege kurz vor dem Blasensprung. Und er fühlte sich anscheinend ausgesprochen unwohl.
Als mallorquinischer Streuner kennt der arme Kerl kein Sättigungsgefühl. „Erst mal rein mit allem, was sich findet“, ist sein Lebensmotto. „Ob man´s dann verdauen kann, wird sich schon zeigen!“
Es zeichnete sich ab (und das kann man angesichts der strammen Bauchpartie wörtlich nehmen), dass zwölf rohe Hefeteigstücke sogar den verdauungsgeübtesten mallorquinischen Straßenkötermagen vor unlösbare logistische Probleme stellten.
Ab dann musste es schnell gehen. Ob er „regurgitiert“ habe, fragte die nette Tierärztin am Telefon. Regurgitieren ist ein sehr hübsches und lautmalerischen Wort für den Vorgang des sich Übergebens, habe ich an diesem Vormittag gelernt. Aber „Nein, der Hund hatte nicht…!“
“Dann sofort in die Klinik kommen!“, wies mich die freundliche Ärztin an. „Wenn der Teig erst im Darm ist, und sich dort weiter ausdehnt, dann wird es kritisch.“ Und da mein Vater weiß, wie man einen guten Hefeteig macht, und die 38,5 Grad Hundemagen-Temperatur nahezu einen idealen Garraum für die Hefeteig-Gährung bietet, war eine weitere Volumenzunahme von Teig und Hund so sicher wie die Böller am Silvesterabend.
Den Hund ins Auto und ab durch den dichten Einkaufsverkehr in die Tierklinik. Rein aus Demonstrationszwecken lies mich die Ärztin am Stethoskop lauschen. Ein gewaltiges Brodeln dröhnte aus dem Hundekörper. Claudio wehrte sich nicht gegen die Spritze, die ihm die Erlösung brachte.
Ein wahres Wundermittel: Keine zwei Minuten später begann der Hund folgsam zu regurgitieren. Ordentlich portioniert kam der Teig wieder zum Vorschein. Weiß und unschuldig.
Claudio blickte irritiert und auch etwas enttäuscht drein. Schließlich war er endlich einmal im Leben so richtig satt gewesen.
Übrigens: Silvester war dann auch ohne Neujahrspuppen ganz schön gewesen.

Nachsatz:
Diese Geschichte entwickelte sich weiter wie Hefeteig im Hundemagen: Sie blähte sich auf und wurde immer großartiger.
Sie wissen ja, wie das geht: Onkel Kurt erzählt es am Stammtisch Herrn Schulze. Herr Schulze erzählt es abends im Bett seiner Frau und Frau Schulze schließlich gibt es während des Damenturnens weiter an Trudi vom Kirchenchor….
Und jeder erfindet ein klitzekleines Detailchen dazu. Stille Post für Erwachsene eben.
Es war kurz vor Fastnacht, als die Geschichte dann wieder bei uns ankam. Manchmal dauert es eben etwas länger.
“Mensch sagen Sie nur“, sprach mich bei Aldi an der Tiefkühltheke die Fußpflegerin meiner Großtante an, „ich habe gehört, bei Ihnen ist zu Silvester der Hund geplatzt…“

Anja über ihren Hund Claudio:

Er war ein wunderbarer Bretonischer Vorstehhund. Geboren 1996, ich musste ihn 2012 leider einschläfern. Claudio war sehr speziell. Ein Lebenskünstler. Er war mallorquinischer Streuner; scheu und sehr charmant. Ungeheuer verfressen und immer auf der Spur etwas Leckerem hinter her. Claudio kannte die besten Müllplätze, alle Nachbarn, die Katzen fütterten, und alle Plätze, an denen die Jäger Wild anlockten.

Claudio lebte bei uns mit zwei Kumpels. Er war der zurückhaltendste und souveränste von allen. Nie im Vordergrund hatte er auch nie Scherereien mit anderen Hunden. Da er nie nach Anerkennung heischte, lernte er auch kaum ein Kommando. Hier, Sitz und Platz. Das war alles. Kein Stöckchen, kein Männchen kein Pfötchen. Man konnte ihm nie böse sein. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich ihn jemals richtig schimpfen musste.

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